Karl Lachmann war bei der Arbeit am „Parzival“-Teil seiner Wolfram-Ausgabe (1833) auf Befunde gestoßen, die so wenig zu seinen textkritischen Vorstellungen passten, dass er sich bei ihrer Beschreibung in eklatante (und erhellende) Widersprüche verwickelte, die aus der Inkompatibilität von Gegenstand und Werkzeug resultierten. Karl Stackmann hat nämlich gezeigt, dass die Lachmannsche Methode u.a. voraussetzt, dass „am Anfangspunkt der für uns überschaubaren Tradition […] ein einziger, fest umrissener Archetypus stehen“ muss. Das ist in der „Parzival“-Überlieferung aber offenbar nicht der Fall, denn die „zahlreichen handschriften des Parzivals […] zerfallen“ nach Lachmann „in zwei klassen [*D und *G], die durchgängig einen verschiedenen text haben“, wobei „in den allermeisten fällen die lesart der einen klasse mit der andern von gleichem werth ist“. Offenbar liegt hier das vor, was Stackmann als gleichwertige Parallelversionen und Joachim Bumke als Fassungen bezeichnet. Zwei Fassungen unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, dass die eine ‚richtig‘, die andere ‚fehlerhaft‘ ist, sondern dadurch, dass „in ihnen ein unterschiedlicher Formulierungs- und Gestaltungswille sichtbar wird“. Infolgedessen kann die auf Fehleranalyse basierende Textkritik bei Fassungen nicht greifen. Um trotzdem aus *D und *G einen Archetyp ‚re‘-konstruieren zu können, revidierte Lachmann sein Urteil über die beiden Klassen auf engstem Raum (gleichermaßen inkonsequent im Hinblick auf die Befunde wie konsequent im Hinblick auf das editorische Ziel) dahingehend, dass *G – eben noch gleichwertig – nun auf einmal „mehr unbezweifelt falsches oder aus falscher besserung entstandenes darbietet“ als *D. Damit war der Gegenstand so zugerichtet, dass das Werkzeug fassen konnte.
DOI: | https://doi.org/10.37307/j.1868-7806.2011.01.08 |
Lizenz: | ESV-Lizenz |
ISSN: | 1868-7806 |
Ausgabe / Jahr: | 1 / 2011 |
Veröffentlicht: | 2011-05-20 |
Seiten 127 - 139
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